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Paul Gra­ham: Was man nicht aus­spre­chen kann

Ge­schrie­ben Ja­nu­ar 2004, über­setzt von Thor­sten Sie­ben­born

Ori­gi­nal: What You Can't Say

Kom­men­ta­re mit Zah­len ent­spre­chen über­setz­ten Ori­gi­nalkom­mentaren, Kom­men­ta­re mit Buch­sta­ben ei­genen An­mer­kungen

Ha­ben Sie schon ein­mal al­te Bil­der von sich selbst an­ge­se­hen und es war Ih­nen pein­lich, wie man aus­ge­se­hen hat ? Ha­ben wir uns da­mals wirk­lich so an­ge­zo­gen ? Ja, ha­ben wir. Und wir hat­ten kei­ne Ah­nung, wie lä­cher­lich wir aus­sa­hen. Es ist die Na­tur der Mo­de, nicht er­kenn­bar zu sein; ge­nauso wie die Be­we­gung der Er­de nicht er­kenn­bar ist, auf der wir al­le wan­deln.

Was mich er­schreckt, ist, dass es auch ei­nen mo­ra­li­schen Zeit­geist gibt. Die­ser ist ge­nauso will­kür­lich und für die mei­sten Leu­te ge­nauso unsicht­bar, je­doch we­sent­lich ge­fähr­li­cher. Mo­de wird fälsch­li­cher­wei­se für gu­tes De­sign gehal­ten, der mo­ra­li­sche Zeit­geist gilt ir­ri­ger­wei­se als an­stän­di­ges Ver­hal­ten. Sich selt­sam zu klei­den löst Ge­läch­ter aus. Mo­ralische An­schau­un­gen zu ver­let­zen birgt je­doch die Ge­fahr in sich, den Ar­beitsplatz zu ver­lie­ren, ver­ach­tet, ein­ge­sperrt oder so­gar er­mor­det zu wer­den.

Wenn man mit ei­ner Zeit­ma­schi­ne zu­rück in die Zeit rei­sen könn­te, wä­re man zu­min­dest ei­ner Sa­che ge­wiss: Egal, wo man hin­rei­sen wür­de, man müs­ste auf­pas­sen, was man von sich gibt. Mei­nungen, die wir heu­te als harm­los emp­fin­den, hät­ten uns in große Schwie­rig­keiten ge­bracht. Ich ha­be be­reits ei­ne Sa­che er­wähnt, die mir wäh­rend des sieb­zehn­ten Jahr­hun­derts in fast ganz Eu­ro­pa großen Är­ger be­rei­tet hät­te, und die Ga­li­leo in große Schwie­rig­keiten brach­te, als er sie aus­sprach – dass die Er­de sich be­wegt[1].

Hoch­be­gab­te[a] kom­men im­mer wie­der in Schwie­rig­keiten. Aus dem­sel­ben Grund, aus dem sie sich un­mo­disch klei­den und gu­te Ide­en ha­ben, äu­ßern sie unpas­sende Din­ge: Kon­ven­tio­nen ha­ben auf sie we­niger Ein­fluss.

Es scheint ei­ne un­ver­än­der­li­che Tat­sa­che der Ge­schich­te zu sein: In je­der Epo­che ha­ben Leu­te Din­ge ge­glaubt, die ein­fach nur lä­cher­lich wa­ren und die so fest ge­glaubt wur­den, dass man in ent­setz­li­che Schwie­rig­keiten ge­kom­men wä­re, falls man et­was an­de­res ge­äu­ßert hät­te.

Ist un­sere Zeit wirk­lich an­ders ? Für je­manden, der auch nur et­was Ge­schich­te ge­le­sen hat, ist die Ant­wort ein si­cheres ­Nein. Es müs­ste schon ein be­mer­kenswerter Zu­fall sein, wenn wir in ei­ner diesbe­züg­lich makello­sen Epo­che le­ben wür­den.

Es ist ei­ne be­drücken­de und zu­gleich ver­locken­de Vor­stel­lung, dass wir Din­ge glau­ben, die Be­su­cher aus der Zu­kunft lä­cher­lich fin­den wer­den. Auf wel­che Din­ge müs­ste je­mand, der uns in ei­ner Zeit­ma­schi­ne be­sucht, acht­ge­ben ? Das ist das, was ich hier un­tersu­chen möch­te. Aber ich möch­te mehr als Leu­te mit ei­nem Ta­bubruch der heu­ti­gen Zeit schockie­ren. Ich möch­te all­ge­mei­ne Me­tho­den fin­den, mit de­nen man un­ab­hän­gig von jed­we­der Ära das auf­spü­ren kann, was man nicht aus­spre­chen kann.

Der Kon­for­mis­ten-Test

Be­ginnen wir mit ei­nem Test:
Ha­ben Sie ir­gend­wel­che Mei­nungen, die Sie aus­ge­spro­chen un­gern vor Leu­ten in Ih­rer Grup­pe äu­ßern wür­den ?

Wenn die Ant­wort nein lau­tet, wä­re es viel­leicht an­ge­bracht, innezuhal­ten und dar­über nachzuden­ken. Wenn al­les, was Sie glau­ben, et­was ist, was Sie glau­ben soll­ten, kann das wirk­lich Zu­fall sein ? Die Wahr­schein­lich­keit spricht da­ge­gen. Es ist viel wahr­schein­licher, dass Sie ge­ra­de das den­ken, was man Ih­nen er­zählt hat.

Die an­de­re Al­ter­na­ti­ve be­steht dar­in, dass Sie un­ab­hän­gig von an­de­ren je­de Fra­ge selbst sorg­fäl­tig ge­prüft ha­ben und ex­akt zu den­sel­ben Ant­worten ge­kom­men sind, die man heu­te als an­nehm­bar an­sieht. Das scheint je­doch nicht sehr wahr­schein­lich zu sein, weil Sie auf die­sem We­ge ge­nau die­sel­ben Feh­ler ma­chen müs­sten. Kar­to­gra­phen tra­gen ab­sicht­lich klei­nere Feh­ler in Ih­re Kar­ten ein, da­mit sie er­ken­nen kön­nen, wenn je­mand Ih­re Kar­te ko­piert. Wenn ei­ne an­de­re Kar­te ge­nau den­sel­ben Feh­ler auf­weist, dann ist das ein sehr über­zeu­gender Be­leg.

Wie in al­len an­de­ren Epo­chen der Ge­schich­te ist un­sere mo­ra­li­sche Welt­sicht mit an Si­cher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit teil­wei­se feh­ler­haft. Und je­der, der ge­nau die­sel­ben Feh­ler macht, macht die­se wahr­schein­lich nicht aus ei­genen Fehl­schlüs­sen. Ge­nau­so könn­te je­mand be­haup­ten, dass er 1972 völ­lig un­ab­hän­gig von an­de­ren Schlag­ho­sen plötz­lich toll fin­det.

Wenn Sie jetzt al­les glau­ben, was Sie glau­ben soll­ten, wie kön­nen Sie dann si­cher sein, dass Sie nicht das ge­glaubt hät­ten, was man Ih­nen als Skla­venbesit­zer[b] im ame­ri­ka­ni­schen Sü­den, als Deut­scher in den drei­ßi­ger Jah­ren oder, was das be­trifft, als Mon­go­le 1200 n. Chr. er­zählt hät­te ?

Die Chan­cen ste­hen gut, dass Sie das Glei­che glau­ben wür­den.

Zu­rück zum Zeit­al­ter der Aus­drücke wie "gut an­ge­passt[c]" scheint es all­ge­mei­ne Auf­fas­sung zu sein, dass et­was mit Ih­nen nicht stimmt, wenn Sie Sa­chen den­ken, die Sie nicht laut aus­zu­spre­chen wa­gen. Das er­scheint rück­stän­dig. Es ist sehr si­cher, dass mit Ih­nen wirk­lich et­was nicht stimmt, wenn Sie nie Sa­chen den­ken, die Sie nicht aus­zu­spre­chen wa­gen.

Är­ger

Was dür­fen wir nicht aus­spre­chen ? Ein Weg, die­se Ide­en zu fin­den, ist es, nach Din­gen Aus­schau zu hal­ten, die Leu­te laut sa­gen und da­mit in Schwie­rig­keiten ge­ra­ten[2].

Na­tür­lich su­chen wir nicht ein­fach nur Din­ge, die wir nicht aus­spre­chen kön­nen. Wir su­chen nach Din­gen, bei de­nen wir nicht sa­gen kön­nen, dass die­se wahr sind oder bei de­nen ei­ne auch nur so ge­ring­fü­gi­ge Chan­ce auf Wahr­heit be­steht, dass die Fra­ge bes­ser of­fen blei­ben soll­te. Aber vie­le der Sa­chen, bei de­nen Leu­te Är­ger be­kom­men, er­fül­len ge­ra­de die­se zwei­te, ge­ring­fü­gi­gere Be­din­gung. Nie­mand be­kommt Är­ger, weil er sagt, dass 2 + 2 fünf ist oder dass die Men­schen in Pitts­bur­gh drei Me­ter groß sind. Solch of­fensichtlich falsche Äu­ße­rungen mö­gen als Scher­ze oder schlimm­stenfalls als An­zei­chen von Gei­stes­krank­heit durch­ge­hen, aber nie­mand regt sich groß dar­über auf. Die Äu­ße­rungen, die Leu­te wirk­lich wü­tend ma­chen, sind ge­ra­de die­jen­igen, bei de­nen sie be­fürch­ten, dass man sie für wahr hal­ten könn­te. Ich ver­mu­te, dass Äu­ße­rungen, bei de­nen Leu­te völ­lig aus­ra­sten, ge­ra­de die­jen­igen sind, bei de­nen sie selbst be­fürch­ten, dass sie wirk­lich wahr sind.

Wenn Ga­li­leo ge­sagt hät­te, dass Leu­te in Pa­dua drei Me­ter groß sind, hät­te man ihn für ei­nen harm­lo­sen Spin­ner gehal­ten. Aus­spre­chen dass die Er­de die Son­ne um­kreist ist ei­ne an­de­re Ge­schich­te. Die Kir­che wus­ste, dass das Leu­te zum Nach­den­ken be­we­gen wür­de.

Wenn wir in die Ver­gan­gen­heit zu­rückblicken, funk­tio­niert die­se Dau­men­re­gel si­cher ganz gut. Vie­le der da­ma­li­gen Äu­ße­rungen, die Leu­te in Schwie­rig­keiten ge­bracht ha­ben, se­hen heut­zu­ta­ge harm­los aus. Es ist al­so wahr­schein­lich, dass Be­su­cher aus der Zu­kunft zu­min­dest ein paar der Be­haup­tun­gen be­stä­ti­gen wer­den, die heu­te Leu­ten Är­ger be­rei­ten. Ha­ben wir kei­ne Ga­li­leos ? Wohl kaum.

Um die­se Sa­chen zu fin­den, hal­ten Sie nach Mei­nungen Aus­schau, die Leu­te in Schwie­rig­keiten brin­gen und fra­gen Sie sich sel­ber: Könn­te das wahr sein ? Ok, es mag ket­ze­risch klin­gen, aber könn­te es nicht doch wahr sein ?

Ket­ze­rei

Trotz­dem ha­ben wir noch nicht al­le Ant­worten be­kom­men. Was ist, wenn bis jetzt nie­mand für ei­ne be­stimmte Idee in Schwie­rig­keiten ge­ra­ten ist ? Was ist, wenn es ei­ne Idee gibt, die so der­ma­ßen aus dem Rah­men fällt, dass sich nie­mand trau­en wür­de, die­se in der Öf­fent­lich­keit aus­zu­spre­chen ? Wie kön­nen wir auch die­se fin­den ?

Ein an­de­re Her­an­ge­hens­wei­se ist es dem Wort „Hä­re­sie“ zu fol­gen. In je­dem Zeit­ab­schnitt der Mensch­heits­ge­schich­te scheint es ge­wisse Eti­ket­ten zum Ab­wür­gen von Äu­ße­rungen zu ge­ben, be­vor sich ir­gend­je­mand fra­gen kann, ob die­se wahr sind oder nicht. Wäh­rend ei­nes lan­gen Zeit­raums der west­li­chen Ge­schich­te wa­ren „Blas­phe­mie“, „Sa­kri­leg“ und „Ket­ze­rei“ sol­che Ab­stem­pe­lungen, neu­ere sind „unanstän­dig“, „unpas­send“ und „un­ame­ri­ka­nisch“.
Heu­te ha­ben die­se Be­zeich­nungen ih­ren Sta­chel ver­lo­ren. Den ver­lie­ren sie auf Dau­er im­mer. Heu­te wer­den sie mei­stens im iro­ni­schem Sin­ne ge­braucht. Aber in Ih­rer Zeit hat­ten sie ech­te Durch­schlags­kraft.

Zum Bei­spiel hat das Wort „De­fä­tist“[d] heu­te kei­ne spe­zi­el­le po­li­ti­sche Ver­knüp­fung mehr. Aber 1917 war es in Deutsch­land ei­ne von Lu­den­dorff be­nutzte Waf­fe, um die­jen­igen mund­tot zu ma­chen, die ei­nen „Ver­stän­di­gungsfrieden“ vor­zo­gen[e]. Zu Be­ginn des zwei­ten Welt­krieges wur­de es aus­gie­big von Churchill und sei­nen Un­terstützern da­zu verwen­det, um an­de­re zum Schwei­gen zu brin­gen. 1940 war je­des Ar­gu­ment ge­gen Churchill's ag­gres­si­ve Po­li­tik „de­fea­tist“. War es rich­tig oder falsch ? Idea­ler­wei­se kam nie­mand so weit, die­se Fra­ge stel­len zu kön­nen.

Wir ha­ben sol­che Ab­stem­pe­lungen selbst­ver­ständ­lich auch heu­te, so­gar ei­ne gan­ze Men­ge, vom uni­ver­sell ein­setz­ba­rem „unan­ge­bracht“ bis zum ge­fürch­te­ten „zwie­träch­tig“. In je­dem Zeit­ab­schnitt soll­te es ein­fach sein, sol­che Ab­stem­pe­lungen aus­zu­ma­chen, in­dem man ein­fach da­nach schaut, wie Leu­te miß­lie­bi­ge Ide­en un­ab­hän­gig von ih­rem Wahr­heitsgehalt nen­nen. Wenn ein Po­li­tiker sagt, dass sein Geg­ner sich irrt, dann ist das ei­ne ge­rad­her­aus vorgebrach­te Kri­tik. Wenn er aber ei­ne Äu­ße­rung als „zwie­träch­tig“ oder „eth­nisch ver­let­zend“ an­greift an­statt zu ar­gu­men­tie­ren, dass sie falsch sei, soll­ten wir auf­merk­sam wer­den.

Ein wei­terer Weg, Ta­bus aus­fin­dig zu ma­chen, die in der Zu­kunft für Hei­ter­keits­aus­brü­che sor­gen wer­den, ist es, sich Eti­ket­ten an­zu­se­hen. Neh­men wir ei­ne sol­che Ab­stem­pe­lung – z. B. „se­xi­stisch“ – and fra­gen uns, wel­che Vor­stel­lungen da­mit be­zeich­net wer­den könn­ten. Dann fra­gen wir uns für je­de: Könn­te die Vor­stel­lung wahr sein ?

Fal­len Ih­nen ge­ra­de ein paar sol­cher Be­griffe zu­fäl­lig ein ? Ja, weil sie näm­lich nicht zu­fäl­lig sind. Die Vor­stel­lungen, die ei­nem als er­stes in den Sinn kom­men, wer­den die ein­leuch­tend­sten sein. Es wer­den die­jen­igen Din­ge sein, die ei­nem selbst aufgefal­len sind, aber bei de­nen man nicht zum Nach­den­ken kom­men soll.

1989 ha­ben sich ein paar ge­scheite For­scher die Au­genbewegungen von Ra­diologen an­ge­se­hen, als die­se Brust­auf­nah­men auf An­zei­chen von Lun­gen­krebs un­tersuchten[3]. Sie fan­den her­aus, dass selbst bei den­je­ni­gen, die ei­ne Krebs­ge­schwulst übersa­hen, die Au­gen län­ger auf der dement­spre­chenden Stel­le ver­harr­ten. Ein Teil Ih­res Ge­hirns wus­ste, dass dort et­was ist; es drang nur nicht in das Be­wusst­sein vor. Ich mei­ne, dass sich vie­le ab­weich­le­ri­sche Ge­dan­ken be­reits in un­serem Ver­stand ge­bil­det ha­ben. Wenn wir un­sere Selbst­zen­sur kurz­zei­tig ab­schal­ten kön­nen, dann wer­den die­se als er­ste auf­tau­chen.

Zeit und Raum

Wenn wir in die Zu­kunft se­hen könn­ten, wä­re es of­fensichtlich, wel­che un­serer Ta­bus als lä­cher­lich emp­fun­den wür­den. Wir kön­nen das nicht, aber wir kön­nen et­was fast ähn­lich Wirk­sa­mes tun: Wir kön­nen uns die Ver­gan­gen­heit an­se­hen. Ein wei­terer Weg, her­auszufin­den, was wir falsch be­ur­tei­len, ist es, sich zu verge­genwärtigen, was da­mals ak­zep­ta­bel und heu­te un­denk­bar ist.

Än­de­run­gen zwi­schen der Ver­gan­gen­heit und der Ge­gen­wart sind manch­mal ein Fort­schritt. In ei­nem Ge­biet wie der Phy­sik stim­men wir des­halb nicht mit un­seren Vor­fah­ren über­ein, weil wir Recht ha­ben und sie nicht[f]. Aber dies wird sehr schnell unkla­rer, wenn wir uns von der Ge­wiß­heit der har­ten Wis­senschaf­ten wegbe­we­gen. Wenn wir bei so­zi­alen Fra­gen an­kom­men, sind vie­le Ver­än­de­run­gen blo­ßer Zeit­geist ge­wor­den. Die Dau­er der Über­ein­stim­mung va­ri­iert wie Klei­der­säu­me.

Wir mö­gen den Ein­druck ha­ben, dass wir viel ge­scheiter und tu­gend­haf­ter als un­sere ver­gan­ge­nen Ge­nerationen ge­wor­den sind, aber je mehr man sich mit der Ge­schich­te be­fasst, de­sto we­niger sieht es da­nach aus. Die Leu­te da­mals wa­ren uns sehr ähn­lich. Kei­ne Hel­den, kei­ne Bar­ba­ren. Was sie auch im­mer ge­dacht ha­ben, es wa­ren Vor­stel­lungen, die ver­nünf­ti­ge Leu­te ge­glaubt ha­ben konn­ten.

Und wie­der ha­ben wir ei­ne in­ter­es­sante Quel­le von Hä­re­sien aus­ge­gra­ben. Ver­glei­chen wir Vor­stel­lungen von heu­ti­gen und da­ma­li­gen Kul­turen und se­hen wir uns die Un­terschiede an[4]. Ein paar wer­den nach heu­ti­gem Stan­dard schockie­rend sein. Ok, fein; aber wel­che könn­ten even­tu­ell wahr sein ?

Man muss nicht ein­mal in die Ver­gan­gen­heit schau­en um große Un­terschiede zu fin­den. In un­serer ei­genen Zeit ha­ben ver­schie­de­ne Ge­sell­schaf­ten aus­ge­spro­chen un­terschiedliche Vor­stel­lungen da­von, was in Ord­nung und nicht in Ord­nung ist. Man kann al­so an­de­re Vor­stel­lungen mit den ei­genen verglei­chen (Der be­ste Weg ist es, die­se auf­zu­su­chen).

Man wird teil­wei­se wi­der­sprüch­liche Ta­bus fin­den. In ei­ner Kul­tur scheint es schlimm zu sein, x zu den­ken, wäh­rend es in ei­ner an­de­ren Kul­tur schlimm ist, x nicht zu den­ken. Aber ich mei­ne, der Schock wird sich ge­wöhn­lich auf ei­ne Sei­te be­schrän­ken. Mei­ne Hy­po­the­se lau­tet, dass sich die Sei­te, die sich auf­regt, höchst­wahr­schein­lich im Un­recht be­fin­det[5].

Ich ver­mu­te, dass die ein­zi­gen Ta­bus, die wirk­lich mehr als nur Ta­bus sind, ge­ra­de die­jen­igen sind, die all­ge­meingültig sind oder ei­ne über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit fin­den. Mord zum Bei­spiel. Aber je­de Vor­stel­lung, die si­gni­fi­kant häu­fig zu be­stimmten Zei­ten und in be­stimmten Kul­turen auf­tritt und als harm­los er­ach­tet wird, aber bei uns ta­bui­siert wird, ist ein An­wär­ter auf ei­nen Irr­tum von uns.

Bei­spiel: Als in den frü­hen Neun­zi­gern die po­li­ti­sche Kor­rekt­heit Ih­ren größ­ten Ein­fluss er­reich­te, hat Har­vard Ih­rer Fa­kul­tät und Ih­ren Mit­ar­bei­tern ei­ne Bro­schü­re zu­ge­sandt. Dar­in stand un­ter an­de­rem, dass es unan­ge­bracht sei, die Klei­dung von Kol­le­gen oder Stu­denten zu lo­ben. Kein „Net­tes T-Shirt“ mehr. Ich den­ke, die­ses Prin­zip ist un­ter den Kul­turen der Welt sehr sel­ten, ob frü­her oder heu­te. Es gibt eher mehr Kul­turen, wo es als aus­ge­spro­chen höf­lich gilt, die Klei­dung von je­mandem zu lo­ben als es als unan­ge­bracht an­zu­se­hen. Die Wahr­schein­lich­keit ist groß, dass dies, mild ge­se­hen, ei­nes der Ta­bus ist, auf die ein Be­su­cher aus der Zu­kunft acht­ge­ben soll­te, wenn er das Ziel der Zeit­ma­schi­ne auf Cam­bridge, Mas­sa­chu­setts/USA 1992 ein­stellt.

Mu­sterknaben

Of­fen­sicht­lich, wenn sie wirk­lich je Zeit­ma­schi­nen in der Zu­kunft ha­ben soll­ten, dann wird es wohl ei­ne Son­der­aus­ga­be von Be­nimm­re­geln al­lei­ne für Cam­bridge ge­ben. Es war schon im­mer ein klein­li­cher Ort, ei­ne Stadt von Ko­rin­then­kackern und Haa­respal­tern, wo er­war­tet wird, dass man sich so­wohl die Gram­ma­tik als auch die ei­genen Vor­stel­lungen im glei­chen Ge­spräch kor­ri­gie­ren läßt. Und wie­der ha­ben wir ei­nen Weg ge­fun­den, Ta­bus aus­fin­dig zu ma­chen. Man hal­te Aus­schau nach Tu­gend­bol­den und un­tersuche, was sich in Ih­ren Köp­fen ver­birgt.

Köp­fe von Kin­dern sind La­gerstätten al­ler un­serer Ta­bus. Es scheint uns rich­tig zu sein, dass die Vor­stel­lungen un­serer Kin­der sau­ber und rein sein soll­ten. Das Bild der Welt, das wir Ih­nen ge­ben, ist nicht nur verein­facht, um die­ses ih­rem erst ent­ste­hendem Ver­stand an­zu­pas­sen. Es ist auch dement­spre­chend un­seren Vor­stel­lungen, was Kin­der den­ken soll­ten, blank­ge­wie­nert[6].

Man sieht es im klei­nen Maß­stab an Schimpf­wör­tern. Vie­le mei­ner Freun­de ha­ben nun Kin­der, und sie al­le versu­chen, kei­ne Wör­ter wie „Schei­ße“ oder „Arsch­loch“[g] in Hör­wei­te des Ba­bys zu ver­wen­den, da­mit das Ba­by die­se nicht nach­plap­pert. Al­lerdings sind die­se Wör­ter nun ein­mal Teil un­serer Spra­che und Er­wach­se­ne be­nut­zen sie stän­dig. Al­so zei­gen Er­wach­se­ne ih­ren Kin­dern ein ver­zerr­tes Ab­bild der Spra­che, wenn sie sie nicht be­nut­zen. Warum ma­chen sie das ? Weil sie den­ken, dass es zu Kin­dern nicht paßt, wenn die­se die ge­sam­te Sprach­fül­le be­nut­zen. Wir mö­gen es, wenn Kin­der un­schul­dig aus­se­hen[7].

Die mei­sten Er­wach­se­nen ge­ben Ih­ren Kin­dern ge­nauso ab­sicht­lich ei­ne irrefüh­rende Vor­stel­lung der Welt. Ei­nes der be­kanntesten Bei­spiele ist das Christ­kind bzw. der Weih­nachts­mann. Wir fin­den es nied­lich, wenn klei­ne Kin­der an den Weih­nachts­mann glau­ben. Ich selbst fin­de es nied­lich, wenn klei­ne Kin­der an den Weih­nachts­mann glau­ben. Aber man fragt sich, er­zäh­len wir es Ih­nen für Ihr See­lenheil oder für un­ser See­lenheil ?

Ich ar­gu­men­tie­re nicht für oder ge­gen die­se Sa­che. Es ist ver­mut­lich un­ver­meid­bar, dass El­tern möch­ten, dass Ih­re Kin­der auf kind­lich nied­liche Art den­ken. Ich ma­che es wahr­schein­lich selbst. Die wich­tige Lek­ti­on für un­seren Zweck ist, dass als Er­geb­nis ein wohler­zo­genes Ge­hirn von ei­nem Ju­gend­li­chen ei­ne mehr oder min­der vollstän­dige Samm­lung al­ler un­serer Ta­bus ist – und in un­be­fleck­tem Zu­stand, weil die­se nicht der Er­fah­rung aus­ge­setzt wur­de. Was sich auch im­mer spä­ter als lä­cher­lich er­wei­sen wird, es ist prak­tisch si­cher, dass es sich in dem Kopf des Ju­gend­li­chem be­fin­den wird.

Wie kom­men wir an die­se Vor­stel­lungen her­an ? Durch fol­gendes Ge­dan­kenexperiment. Stel­len wir uns ei­nen alt­ge­dien­ten Hau­de­gen vor, der län­gere Zeit als Söld­ner in Afri­ka gear­bei­tet hat, dann Dok­tor in Ne­pal war und jetzt als Ma­na­ger ein Amü­sier­lo­kal in Mi­a­mi lei­tet. Die ge­nauen Ein­zel­hei­ten sind un­wich­tig – nur je­mand, der ei­ne Men­ge ge­se­hen hat.

Nun stel­len wir uns vor, das wir das, was sich im Kopf des Hau­de­gens be­fin­det, mit dem verglei­chen, was sich im Kopf ei­nes wohler­zo­genen sech­zehn Jah­re al­ten Mäd­chens ei­ner Vor­stadt be­fin­det. Was wür­de er den­ken, was sie schockie­ren wür­de ? Er kennt die Welt, sie kennt, oder zu­min­dest re­prä­sen­tiert, der­zeitige Ta­bus. Zie­he das ei­ne vom dem an­de­ren ab, und das Er­geb­nis ist, was man nicht aus­spre­chen darf.

Wir­kungswei­se

Ich kann mir ei­nen wei­teren Weg den­ken, das, was wir nicht sa­gen dür­fen, aus­fin­dig zu ma­chen: Nach­schau­en, wie Ta­bus ent­ste­hen. Warum ent­ste­hen mo­ra­li­sche Zeit­geister und warum wer­den sie über­nom­men ? Wenn wir die­sen Me­cha­nis­mus durch­schau­en, könn­ten wir sei­ne Wir­kung in un­serer ei­genen Zeit beobach­ten.

Mo­ralische Zeit­geister schei­nen nicht wie ge­wöhn­liche Mo­de zu ent­ste­hen. Nor­ma­le Mo­de scheint durch Zu­fall aus­ge­löst zu wer­den, wenn je­mand die Ma­rot­te ei­ner ein­fluß­rei­chen Per­son nach­ahmt. Die Mo­de breit­ze­hi­ger Schu­he wäh­rend des spä­ten fünf­zehn­ten Jahr­hun­derts be­gann, weil Charles VIII von Frank­reich sechs Ze­hen an je­dem Fuss hat­te. Die Be­liebt­heit des Na­mens Ga­ry be­gann, als der Schau­spie­ler Frank Cooper den Na­men ei­ner rauhbei­ni­gen Hüt­ten­stadt in In­dia­na an­nahm. Mo­ralische Vor­stel­lungen wer­den aber wohl eher ab­sicht­lich er­zeugt. Wenn je­mand da ist, der sagt, dass wir et­was nicht in den Mund neh­men sol­len, dann häu­fig des­halb, weil ei­ne be­stimmte Grup­pe dies nicht möch­te.

Das Ver­bot wird dann am stärk­sten sein wenn die Grup­pe un­ru­hig ist. Die Iro­nie von Ga­li­leo's Si­tua­ti­on war, dass er in Schwie­rig­keiten kam, weil er Ko­per­ni­kus wie­der­holte. Ko­per­ni­kus selbst hat dies nicht ge­tan. Tat­säch­lich war Ko­per­ni­kus selbst Prie­ster und hat sein Buch dem Papst ge­wid­met. Aber zu Ga­li­leos Zei­ten war die Kir­che in den We­hen der Re­for­ma­ti­on und we­sent­lich be­un­ru­hig­ter über un­or­tho­do­xe Ide­en[h].

Um ein Ta­bu auf­zu­stel­len, muss sich ei­ne Grup­pe im Zu­stand der Schwä­che als auch der Macht be­fin­den. Ei­ne selbstbe­wus­ste Grup­pe braucht kei­ne Ta­bus um sich zu schüt­zen. Es gilt nicht als unpas­send, her­ab­las­sen­de Be­mer­kungen über Ame­ri­kaner oder das Eng­li­sche zu ma­chen[i]. Und doch muss die Grup­pe mäch­tig ge­nug sein um ein Ta­bu er­zwin­gen zu kön­nen. Ko­pro­phi­le[j] ha­ben zu die­ser Zeit wohl zu we­nig Mit­strei­ter oder ge­nü­gend Ener­gie, um Ihr In­ter­es­se zu ei­nem Le­bensstil zu ma­chen.

Ich mut­ma­ße, dass die grös­ste Quel­le von mo­ra­li­schen Ver­boten Macht­kämp­fe sind, in de­nen die ei­ne Sei­te nur knapp die Ober­hand be­hält. Dort fin­det man ei­ne Grup­pe, die macht­voll ge­nug ist, Ta­bus durch­zu­set­zen, aber schwach ge­nug ist, um sie zu be­nö­ti­gen.

Die mei­sten Kämp­fe, was auch im­mer sie wirk­lich verfol­gen, wird als Rol­le zwei­er kon­kur­rie­ren­der Ide­en dar­ge­stellt. Die eng­li­sche Re­for­ma­ti­on war im Grun­de ein Kampf um Macht und Geld, aber öf­fent­lich wur­de dar­aus ein Schutz kost­barer eng­li­scher See­len vor dem ver­derb­li­chen Ein­fluss aus Rom. Es ist leich­ter, Leu­te für ei­ne Idee kämp­fen zu las­sen. Und wer auch im­mer ge­winnt, ih­re Ide­en wer­den als sieg­reich dar­ge­stellt, als ob Gott in wei­ser Vor­aus­sicht den Ge­win­ner be­stimmt hät­te.

Wir den­ken oft ger­ne, dass der Zwei­te Welt­krieg ein Tri­umph der Frei­heit über den To­ta­li­ta­ris­mus war. Wir verges­sen be­que­merwei­se, dass die So­wje­tu­ni­on mit zu den Ge­win­nern zählt.

Ich sa­ge nicht, dass Macht­kämp­fe nie­mals auf Ide­en ba­sie­ren, nur dass sie im­mer so dar­ge­stellt wer­den, als ob es um Ide­en gin­ge. Und ge­nau so, wie es nichts Un­kleid­sa­me­res als ei­ne ver­gan­ge­ne und ver­wor­fe­ne Mo­de gibt, so gibt es nichts, was so falsch war wie die Vor­stel­lungen des be­sieg­ten Geg­ners. Re­prä­sen­ta­ti­ve Kunst er­holt sich nur lang­sam von der Be­gei­ste­rung, die ihr von Hit­ler und Sta­lin zu­teil wur­de[8].

Ob­wohl mo­ra­li­scher Zeit­geist und Mo­de aus un­terschiedlichen Grün­den ent­ste­hen, funk­tio­niert der Ad­ap­ti­ons­me­cha­nis­mus ziem­lich gleich. Die er­sten Nach­fol­ger wer­den coo­le selbstbe­zogene Leu­te sein, de­ren Be­stre­ben es ist, sich von der Mas­se ab­zu­gren­zen. Wenn die Mo­de eta­bliert ist, ge­sellt sich ei­ne zwei­te, we­sent­lich grö­ße­re Grup­pe hin­zu, ge­trie­ben durch Angst[9]. Die­se zwei­te Grup­pe über­nimmt die Mo­de nicht, weil sie auffal­len möch­te, son­dern weil sie Angst hat, aufzufal­len.

Wenn wir her­ausfin­den wol­len, was wir nicht aus­spre­chen sol­len, soll­ten wir uns die Ma­schi­ne­rie der Mo­de an­se­hen und versu­chen vor­auszusa­gen, was es ger­ne un­aus­sprech­lich ma­chen wür­de. Wel­che Grup­pen sind mäch­tig, aber un­ru­hig, und wel­che Vor­stel­lungen möch­ten sie un­terdrücken ? Wel­che Ide­en wer­den als feh­ler­haft dar­ge­stellt, weil sie mit der Ver­lie­rer­sei­te ei­nes vor­an­ge­gan­ge­nen Kon­flik­tes ver­bun­den wer­den ? Wenn ei­ne coo­le selbstbe­zogene Per­son sich von ver­gan­ge­nen Mo­den ab­gren­zen möch­te (z. B. von sei­nen El­tern), wel­che Vor­stel­lungen wür­de er ab­leh­nen ? Was ha­ben kon­ser­va­tiv ein­ge­stell­te Leu­te Angst zu sa­gen ?

Die­se Me­tho­de wird nicht al­les fin­den, was man nicht in den Mund neh­men kann. Ich kann mir ei­ni­ge Sa­chen den­ken, die nicht das Re­sul­tat vor­an­ge­gan­ge­ner Kämp­fe sind. Vie­le un­serer Ta­bus wur­zeln in der Ver­gan­gen­heit. Aber die­ser An­satz, zu­sam­men mit den vor­an­ge­gan­ge­nen vier, wird ei­ne Men­ge un­denk­barer Ide­en er­ge­ben.

Warum

Ei­ni­ge wer­den sich fra­gen, warum soll­te je­mand das ma­chen ? Warum sich ab­sicht­lich mit an­stö­ßi­gen und wi­der­wär­ti­gen Vor­stel­lungen be­fas­sen ? Warum je­den Stein umdre­hen, um zu se­hen, was sich dar­un­ter be­fin­det ?

Er­stens ma­che ich es aus dem sel­ben Grund warum ich als Kind Stei­ne umge­dreht ha­be: schlich­te Neu­gier. Und ich bin be­son­ders neu­gie­rig auf al­les, was ver­bo­ten ist. Las­sen Sie mich nach­se­hen und sel­ber ent­schei­den.

Zwei­tens, ich ma­che es, weil mir der Ge­dan­ke nicht ge­fällt, falsch zu lie­gen. Wenn, wie in an­de­ren Zeit­al­tern, wir Din­ge glau­ben, die spä­ter lä­cher­lich klin­gen, dann möch­te ich zu­min­dest wis­sen, was die­se sind, da­mit ich ver­mei­den kann, dar­an zu glau­ben.

Drit­tens, ich ma­che es, weil es gut für das Ge­hirn ist. Um gu­te Ar­beit zu lei­sten braucht man ein Ge­hirn, das je­den Ge­dan­ken zu fas­sen ver­mag. Und man braucht ein Ge­hirn, dass sich die Ge­wohn­heit zu ei­gen macht, dort­hin zu be­ge­ben, wo es nicht sein soll­te.

Große Wer­ke nei­gen da­zu, aus Ide­en zu wach­sen, die an­de­re überse­hen ha­ben, und kei­ne Idee wird so überse­hen wie das Un­denk­ba­re. Na­tür­liche Se­lek­ti­on, zum Bei­spiel. Es ist so ein­fach. Warum kam nie­mand vor­her auf die Idee ? Nun, das ist nur zu of­fensichtlich. Dar­win selbst drück­te sich sehr vor­sich­tig be­züg­lich der Fol­ge­run­gen sei­ner Theo­rie aus. Er woll­te sei­ne Zeit da­mit verbrin­gen, über Bio­lo­gie nachzuden­ken, nicht mit Leu­ten zu ar­gu­men­tie­ren, die ihn als Athei­sten be­schul­di­gen wür­den.

Be­son­ders in den Wis­senschaf­ten ist es ein großer Vor­teil, An­nah­men in Fra­ge zu stel­len. Die Vor­ge­hens­wei­se von Wis­senschaftlern, zu­min­dest von den gu­ten, ist ge­nau das: Aus­schau hal­ten nach Stel­len, wo die kon­ven­tio­nel­le Weis­heit ver­sagt und dann dort die Ris­se wei­ter auf­zu­rei­ßen, um nach­zu­se­hen, was sich dort ver­steckt. Dort ent­ste­hen neue Theo­rien.

In an­de­ren Wor­ten: Ein gu­ter Wis­senschaftler igno­riert nicht nur ab und zu kon­ven­tio­nel­le Weis­heit, son­dern strengt sich an, die­se zu widerle­gen. Wis­senschaftler su­chen nach Pro­blemen. Dies soll­te die Vor­ge­hens­wei­se je­des Ge­lehr­ten sein, aber Wis­senschaftler sind viel be­rei­ter, un­ter Stei­nen nach­zu­se­hen[10].

Warum ? Es könn­te sein, dass Wis­senschaftler schlicht ge­scheiter sind, die mei­sten Phy­siker könn­ten, falls not­wen­dig, ei­nen Dok­tor in fran­zö­si­scher Li­te­ra­tur ma­chen, aber kaum in Pro­fes­sor der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur könn­te ei­nen Dok­tor in Phy­sik ma­chen. Oder es könn­te sein, dass es in der Wis­senschaft of­fensichtlicher ist, ob Theo­rien wahr oder falsch sind, und das macht Wis­senschaftler mu­tiger. (Oder es könn­te sein, dass man schlau sein muss, um ei­nen Job als Wis­senschaftler be­kom­men zu kön­nen, weil es in der Wis­senschaft of­fensichtlicher ist, ob Theo­rien wahr oder falsch sind; mehr als es ein Job als gu­ter Po­li­tiker ver­langt.)

Was auch im­mer der Grund ist, es scheint ei­nen kla­ren Zu­sam­menhang zwi­schen In­tel­li­genz und dem Wil­len zu ge­ben, schockie­rende Ide­en in Be­tracht zu zie­hen. Das ist nicht nur, weil schlaue Leu­te ak­tiv dar­an ar­bei­ten, Lö­cher im kon­ven­tio­nel­lem Den­ken zu fin­den. Ich glau­be auch, dass Kon­ven­tio­nen we­niger Ein­fluss auf sie ha­ben. Man sieht es dar­an, wie sie sich klei­den.

Es sind nicht nur Wis­senschaf­ten, wo sich Hä­re­sie aus­zahlt. In je­dem kon­kur­rie­ren­dem Feld kann man ei­ne Men­ge ge­win­nen wenn man das sieht, was an­de­re nicht zu se­hen wa­gen. Und in je­dem Feld gibt es wahr­schein­lich Hä­re­sien, die we­nige aus­zu­spre­chen wa­gen. In­ner­halb der US-Auto­in­dus­trie gibt es der­zeit viel Hän­de­wrin­gen über den sin­ken­den Markt­an­teil. Und doch ist die Ur­sa­che so of­fensichtlich, dass je­der auf­merk­sa­me Be­ob­ach­ter es in ei­ner Se­kun­de er­klä­ren könn­te: Sie ma­chen schlech­te Au­tos. Und sie ma­chen es schon so lan­ge, dass US-Mar­ken An­ti­mar­ken sind – et­was, was man trotz, nicht we­gen kauft. Ca­dil­lac hör­te et­wa 1970 auf, der Ca­dil­lac der Au­tos zu sein. Und doch ver­mu­te ich stark, dass sich nie­mand wagt, das aus­zu­spre­chen[11]. An­de­ren­falls hät­ten die Fir­men ver­sucht, das Pro­blem zu lö­sen.

Sich selbst da­zu anzuhal­ten, un­aus­sprech­liche Ge­dan­ken zu den­ken, hat mehr Vor­teile als das, was die Ge­dan­ken selbst zu bie­ten ha­ben. Es ist wie Deh­nen. Wenn man sich dehnt, be­vor man los­läuft, bringt man den Kör­per in Po­si­ti­onen, die we­sent­lich ex­tremer sind als sol­che, die wäh­rend des Lau­fens auf­tre­ten. Wenn man Ge­dan­ken den­ken kann, die so der­ma­ßen vom Ge­wohn­ten ab­wei­chen, dass sich die Haa­re der Leu­te sträu­ben wür­den, hat man kei­ne Pro­bleme mit den klei­nen Aus­flü­gen, die Leu­te in­no­va­tiv nen­nen.

Pen­sie­ri Stret­ti

Wenn man et­was ge­fun­den hat, was man nicht im Mund neh­men darf, was soll man dann da­mit ma­chen ? Mein Rat: Spre­chen Sie es nicht aus. Oder su­chen Sie sich we­nigstens Ih­re Geg­ner wei­se aus.

Stel­len Sie sich vor, dass es in der Zu­kunft ei­ne Be­we­gung gibt, die die Far­be Gelb verbie­ten will. Vor­schlä­ge, et­was gelb an­zu­pin­seln, wür­den als „Gelb­lieb­ha­berei“ ge­schmäht, ge­nauso wie Leu­te, die man ver­däch­tigt, die Far­be zu mö­gen. Leu­te, die Oran­ge mö­gen, wer­den zwar to­le­riert, aber mit Arg­wohn be­trach­tet. Stel­len Sie sich nun vor, dass sie be­grei­fen, dass die Far­be Gelb völ­lig in Ord­nung ist. Wenn Sie nun her­umlau­fen und das laut aus­spre­chen, wird man sie auch als „Gelb­lieb­ha­ber“ her­ab­set­zen und Sie wer­den vie­le Strei­te­rei­en mit Leu­ten ha­ben, die feind­lich zur Far­be Gelb ste­hen. Wenn Ihr Ziel im Le­ben dar­in be­steht, die Far­be Gelb zu re­ha­bi­li­tie­ren, dann kann das ge­nau das sein, was sie möch­ten. Wenn Ihr In­ter­es­se haupt­säch­lich auf an­de­re Fra­gen ge­rich­tet sind, wird Ih­nen das Ab­stem­peln als Gelb­lieb­ha­ber ein­fach nur lä­stig sein. Dis­ku­tie­re mit Idio­ten und Du wirst selbst ei­ner.

Die wich­tigste Sa­che ist es, zu den­ken, was man mag; nicht, al­les zu sa­gen, was man will. Und wenn Ih­nen da­nach ist, al­les sa­gen zu müs­sen, was Sie den­ken, wird die da­zugehörige Er­fah­rung Sie mög­licherwei­se da­von ab­hal­ten, sich wei­ter mit unpas­sen­den Ge­dan­ken zu be­schäf­ti­gen. Ich den­ke, es ist bes­ser, ei­ne ent­ge­gen­ge­setz­te Hal­tung ein­zu­neh­men. Zie­hen Sie ei­nen schar­fen Trenn­strich zwi­schen dem, was sie den­ken und dem, was sie sa­gen. In­ner­halb Ih­res Kopf­es ist al­les er­laubt. In­ner­halb mei­nes Kopf­es kann ich mich da­zu er­mun­tern, die schlimm­sten Ge­dan­ken zu den­ken, die ich mir vorstel­len kann. Aber, ge­nau wie in ei­ner Ge­heim­ge­sell­schaft, nichts, was in­ner­halb des Ge­bäu­des pas­siert, dringt je nach au­ßen. Die er­ste Re­gel des Fight Club ist es: Man re­det nicht über den Fight Club[k].

Als Mil­ton sich vorbe­rei­tete, Ita­li­en in den drei­ßi­ger Jah­ren des sieb­zehn­ten Jahr­hun­dertes zu be­su­chen, sag­te ihm Sir Hen­ry Woot­ton als ehe­ma­li­ger Bot­schaf­ter in Ve­ne­dig, dass er das Mot­to „i pen­sie­ri stret­ti ? il vi­so sciol­to“ be­her­zi­gen soll­te. Ge­schlos­se­ne Ge­dan­ken und ein of­fenes Ge­sicht. Lächle je­den an und sa­ge Ih­nen nicht, was Dir ge­ra­de durch den Kopf geht. Dies war ein wei­ser Rat. Mil­ton war ein dis­ku­tier­freu­di­ger Mensch und die In­qui­si­ti­on war zu die­sem Zeit­punkt ein ? un­ru­hig. Ich hal­te die Dif­fe­renz zwi­schen Mil­ton's und der der­zeitigen Si­tua­ti­on nur für gra­du­ell. Je­de Ära hat­te Ih­re Ket­ze­reien, und selbst wenn man nicht im Ge­fäng­nis lan­det, be­kommt man min­de­stens ge­nug Är­ger, dass man vollstän­dig ab­ge­lenkt wird.

Ich ge­be zu, dass es fei­ge klingt, stillzublei­ben. Wenn ich dar­über le­se, wel­chen Be­lä­sti­gun­gen man durch Scien­to­lo­gen aus­ge­setzt wird[12], dass prois­rae­li­sche Grup­pie­run­gen Ak­ten über Per­sonen zu­sam­menstel­len, die Is­raels Men­schenrechtsverletzungen kri­ti­sie­ren[13], oder dass Leu­te we­gen Ver­let­zung der DM­CA[14] an­ge­klagt wer­den, dann möch­te ein Teil von mir sa­gen: „Na schön, Ihr Ba­star­de, kommt doch.“ Das Pro­blem ist nur, es gibt so vie­le Din­ge, die man nicht aus­spre­chen darf. Wenn man al­le sagt, hat man kei­ne Zeit mehr für sei­ne ei­gentliche Ar­beit. Man müs­ste sich in No­am Choms­ky[15] ver­wan­deln.

Der wirk­liche Nach­teil da­von, Ge­dan­ken ge­heimzuhal­ten, ist es, dass man die Vor­teile ei­ner Dis­kus­si­on ver­liert. Über ei­ne Idee zu spre­chen führt zu mehr Ge­dan­ken. Der op­ti­ma­le Plan ist es, so­fern mög­lich, ein paar wirk­lich vertrau­enswürdige Freun­de zu ha­ben, mit de­nen man of­fen über sol­che Din­ge spre­chen kann. Das ist nicht nur ei­ne Art, Ge­dan­ken zu ent­wickeln; es ist auch ei­ne gu­te Dau­men­re­gel, wel­che Freun­de man sich aus­sucht. Die Leu­te, de­nen man ab­weich­le­ri­sche Din­ge sa­gen kann, oh­ne dass sie ei­nem ins Ge­sicht sprin­gen, sind die in­ter­es­santesten Leu­te zum Ken­nen­ler­nen.

Vi­so Sciol­to ?

Ich glau­be nicht, dass wir vi­so sciol­to ge­nausogut brau­chen wie pen­sie­ri stret­ti. Viel­leicht ist es die be­ste Po­li­tik, es klar zu ma­chen, dass man nicht mit dem über­einstimmt, was mo­der­ne Ei­fe­rer von sich ge­ben, al­lerdings nicht zu ge­nau sa­gen, was man ab­lehnt. Fa­na­ti­ker wer­den versu­chen, Sie bloß­zu­stel­len, man muss Ih­nen je­doch nicht ant­wor­ten. Wenn sie versu­chen, Sie zu ei­ner Stel­lungnahme zu zwin­gen, in­dem sie ein „Sind Sie für oder ge­gen uns ?“ fra­gen, kann man im­mer mit „We­der noch“ ant­wor­ten.

Noch bes­ser, ant­wor­ten Sie: „Ich ha­be mich noch nicht ent­schieden.“ Das war das, was Lar­ry Sum­mers ge­macht hat, als ei­ne Grup­pe ver­sucht hat, ihn in die­se Po­si­ti­on zu brin­gen. Er er­klärte spä­ter: „Ich las­se mich nicht auf Lack­mu­stests ein“[16]. Vie­le der Fra­gen, bei de­nen sich Leu­te auf­re­gen, sind wirk­lich et­was kom­pli­zier­ter. Es gibt kei­nen Preis da­für, die Ant­wort er­zwin­gen zu wol­len.

Falls z. B. die Gelb­has­ser an­schei­nend au­ßer Kon­trol­le ge­ra­ten sind und man zu­rückschla­gen möch­te, gibt es Mit­tel, oh­ne sich als „Gelb­lieb­ha­ber“ brand­mar­ken las­sen zu müs­sen. Wie Schar­mütz­ler in ei­ner al­tertümlichen Ar­mee möch­ten Sie es ver­mei­den, der Haupt­macht der feind­lichen Ar­mee ent­ge­gen­zu­tre­ten. Bes­ser ist es, sie mit Pfei­len aus der Di­stanz zu be­lä­sti­gen.

Ein Weg, dies zu er­rei­chen, ist es die Aus­ein­an­der­set­zung ei­ne Stu­fe ab­strak­ter zu füh­ren. Wenn man all­ge­mein ge­gen Zen­sur Stel­lung be­zieht, kann man ver­mei­den, ei­ner in ei­nem zu zen­sie­ren­dem Werk ge­äu­ßerten Hä­re­sie an­ge­klagt zu wer­den. Man kann Ab­stem­pe­lungen mit Be­zeich­nungen be­kämp­fen, die den Ge­brauch von Stem­peln zur Ver­mei­dung von Dis­kus­si­onen zu­sam­menfas­sen. Die Aus­brei­tung des Be­griffes „po­li­ti­sche Kor­rekt­heit“ war der An­fang vom En­de ebendie­ser, weil er es er­laubte, das Phä­no­men zu at­tackie­ren, oh­ne auf ein­zel­ne Ver­bote/Ge­bo­te die­ser Rich­tung ein­ge­hen zu müs­sen.

Wie­der ei­ne an­de­re Me­tho­de ist der Ge­gen­an­griff mit ei­ner Me­ta­pher. Ar­thur Mil­ler un­tergrub das Haus der Kom­mis­si­on für uname­ri­ka­ni­sche Ak­ti­vi­tä­ten, in­dem er ein Stück „He­xen­jagd“ (An­mer­kung: Im wört­lichem Sinn „Die Feu­er­pro­be“) über die He­xen­pro­zes­se in Sa­lem schrieb. Er be­zog sich nie auf die Kom­mis­si­on selbst und gab ih­nen so­mit kei­ne Mög­lich­keit zur Hand­ha­be. Was soll­te die Kom­mis­si­on tun, die He­xen­pro­zes­se von Sa­lem ver­tei­di­gen ? Und trotz­dem blieb die Me­ta­pher so stark im Ge­dächt­nis haf­ten, dass bis heu­te die Ak­ti­vi­tä­ten der Kom­mis­si­on oft als He­xen­jagd be­schrieben wer­den.

Ei­nes der be­sten Waf­fen ist wahr­schein­lich Hu­mor. Ei­fe­rer und Fa­na­ti­ker, was auch im­mer Ihr Grund ist, lei­den ge­wohn­heits­mä­ßig un­ter ei­nem völ­ligen Man­gel dar­an. Sie kön­nen auf Wit­ze nicht na­tür­lich reagie­ren. Sie füh­len sich auf dem Ge­biet des Hu­mors so wohl wie ein Rit­ter zu Pfer­de auf ei­ner Schlitt­schuh­bahn. Zum Bei­spiel scheint die vik­to­ria­nische Prüd­heit haupt­säch­lich da­durch un­tergegangen zu sein, dass man sie ver­al­ber­te. Ih­rer Rein­kar­na­ti­on als po­li­ti­sche Kor­rekt­heit scheint es ähn­lich zu er­ge­hen. „Ich bin froh, dass ich es ge­schafft ha­be, ‚He­xen­jagd‘ zu schrei­ben“, schrieb Ar­thur Mil­ler, „aber wenn ich zu­rückblicke, hät­te ich mir ge­wünscht, dass ich das Tem­pe­rament ge­habt hät­te, ei­ne ab­sur­de Ko­mö­die dar­aus zu ma­chen; das wä­re das, was der Si­tua­ti­on an­ge­mes­sen ge­we­sen wä­re.“[17]

Im­mer wie­der fra­gen

Ein hol­län­di­scher Freund sag­te, dass ich Hol­land als ein Bei­spiel ei­ner to­le­ran­ten Ge­sell­schaft be­nut­zen soll­te. Es stimmt, dass sie ei­ne lan­ge Tra­di­ti­on von ver­hält­nis­mä­ßig großer Auf­ge­schlos­sen­heit ha­ben. Jahr­hun­dertelang wa­ren die Be­ne­lux­staa­ten der Platz, um Din­ge sa­gen zu kön­nen, die man an­derswo nicht sa­gen konn­te, und dies half, die Re­gi­on ein Zen­trum von Ge­lehr­sam­keit und In­du­strie zu ma­chen (die schon we­sent­lich län­ger zu­sam­menhän­gen als die mei­sten Leu­te be­grei­fen). Des­car­tes, ob­wohl von den Fran­zo­sen in Be­schlag ge­nom­men, hat­te viel in Hol­land nachge­dacht. Und doch, ich wun­de­re mich. Die Nie­der­län­der schei­nen bis zum Hals in Re­geln und Ge­setze ein­ge­bun­den zu sein. Da gibt es so viel, was man dort nicht ma­chen darf; gibt es wirk­lich nichts, was man dort nicht sa­gen kann ?

Selbst­ver­ständ­lich ist die Tat­sa­che, dass sie Auf­ge­schlos­sen­heit schät­zen, kei­ne Ga­ran­tie. Wer denkt schon, dass er nicht auf­ge­schlos­sen ist ? Un­ser sprö­des Fräu­lein aus der Vor­stadt denkt, dass sie auf­ge­schlos­sen ist. Wur­de sie denn nicht da­nach er­zo­gen ? Fra­gen Sie je­den, and al­le wer­den sa­gen, dass sie doch schon ziem­lich auf­ge­schlos­sen sind, wo­bei sie na­tür­lich die Gren­ze dort zie­hen, was wirk­lich falsch ist. (Man­che Stäm­me wer­den das Wort „falsch“ als wer­tend ver­mei­den und stattdes­sen neu­tral klin­gendere Be­schö­ni­gun­gen wie „ne­ga­tiv“ oder „de­struk­tiv“ ver­wen­den.) Wenn Leu­te schlecht in Ma­the sind, wis­sen sie es, weil sie die falschen Ant­worten in Tests an­kreu­zen. Aber wenn Leu­te kaum oder gar nicht auf­ge­schlos­sen sind, wis­sen sie es nicht. Tat­säch­lich glau­ben sie eher das Ge­gen­teil. Wir er­in­nern uns, die Na­tur der Mo­de ist es, nicht er­kenn­bar zu sein. Es wür­de an­der­wei­tig nicht funk­tio­nie­ren. Mo­de sieht in den Au­gen der­je­ni­gen, die sich in Ih­rem Griff be­fin­den, nicht wie Mo­de aus. Es sieht bloß pas­send aus. Nur aus der Ent­fer­nung kön­nen wir die Schwan­kun­gen in den Vor­stel­lungen der Leu­te er­ken­nen, was das Rich­ti­ge ist, und kön­nen sie als Zeit­geist iden­ti­fi­zie­ren. Zeit gibt uns ei­ne sol­che Di­stanz oh­ne wei­teres. In der Tat, das Er­schei­nen neu­er Zeit­geister macht die al­ten ein­fach zu se­hen, weil sie im Ge­gen­satz da­zu so lä­cher­lich erschei­nen. Von ei­nem En­de des Pen­dels aus­ge­se­hen sieht das an­de­re be­son­ders weit aus.

Um Zeit­geist in un­serer ei­genen Zeit er­ken­nen zu kön­nen be­nö­ti­gen wir be­wuß­te An­stren­gung. Oh­ne Zeit­raum, der ei­nem Di­stanz ver­leiht, muss man sich die Di­stanz sel­ber er­schaf­fen. An­statt Teil des Pö­bels zu sein, hal­te man sich so weit wie mög­lich da­von fern und be­ob­ach­te, was er macht. Und schen­ken Sie Ih­re Auf­merk­sam­keit be­son­ders dem Fall, dass ei­ne Idee un­terdrückt wird. Web­fil­ter für Kin­der so­wie Ar­beitge­ber verbie­ten Zu­griff auf por­no­gra­phi­sche Sei­ten, Ge­walt und Hassre­den. Was zählt als Por­no­gra­phie und Ge­walt ? Und was ge­nau ist „Hassre­de“ ? Das klingt wie ei­ne Phra­se aus „1984“. Ab­stem­pe­lungen sind wahr­schein­lich die be­sten äu­ße­ren An­zei­chen. Wenn ei­ne Äu­ße­rung falsch ist, dann ist das die schlimm­ste, was man dar­über sa­gen kann. Man braucht nicht zu sa­gen, dass sie da­ne­ben ist. Und wenn sie nicht falsch ist, soll­te sie nicht un­terdrückt wer­den. Wenn man al­so hört, dass Äu­ße­rungen als x-tisch an­ge­grif­fen wer­den, egal ob in 1630 oder 2030, ha­ben wir ein si­cheres Zei­chen da­für, dass et­was nicht stimmt. Wenn Sie sol­che Ab­stem­pe­lungen hö­ren, fra­gen Sie sich warum.

Ins­be­son­de­re dann, wenn man merkt, dass man sie selbst be­nutzt. Es ist nicht nur der Mob, den man aus der Di­stanz betrach­ten soll­te. Man muss in der La­ge sein, sei­ne ei­genen Ge­dan­ken aus der Di­stanz zu betrach­ten. Das ist, ne­ben­bei be­merkt, kei­ne ra­di­ka­le Idee; es ist der Un­terschied zwi­schen Kin­dern und Er­wach­se­nen. Wenn ein Kind wü­tend wird, weil es mü­de ist, weiß es nicht, was pas­siert. Ein Er­wach­se­ner kann sich so weit von der Si­tua­ti­on di­stan­zie­ren, um zu sa­gen „Nicht auf­re­gen, ich bin bloß mü­de“. Ich kann nicht er­ken­nen, warum je­mand in ei­nem ähn­lichen Pro­zess nicht ler­nen könn­te, die Aus­wir­kun­gen ei­nes mo­ra­li­schen Zeit­geistes zu be­mer­ken und ab­zu­leh­nen.

Man muss die­sen Ex­tra­schritt un­terneh­men wenn man klar den­ken will. Aber es ist schwe­rer, weil man nun ge­gen so­zi­ale Ge­wohn­heiten als mit Ih­nen denkt. Je­der er­mu­tigt Sie da­zu, zum Punkt zu kom­men, wo man sei­ne schlech­te Lau­ne nicht mehr be­rück­sich­tigt. We­ni­ge er­mu­ti­gen Sie, dort wei­terzuma­chen, bis man die schlech­te Lau­ne der Ge­sell­schaft nicht mehr be­rück­sich­tigt.

Wie kann man die Wel­le se­hen, wenn man das Was­ser ist ? Stel­le Fra­gen. Das ist die ein­zi­ge Ver­tei­di­gung. Was kann ich nicht aus­spre­chen ? Und warum ?

Fuß­no­ten im Ori­gi­nal

[1]
Die In­qui­si­ti­on hat wahr­schein­lich nie wirk­lich vorge­habt, Ih­re Dro­hung mit der Fol­ter aus­zu­füh­ren. Aber das war so, weil Ga­li­leo klar­mach­te, dass er al­les, um was sie Ihn bit­ten wür­den, tun wür­de. Wenn er sich ge­wei­gert hät­te, ist es schwer vor­stell­bar, dass sie ein­fach klein bei­ge­ge­ben hät­ten. Nicht lan­ge vor­her ha­ben sie den Phi­lo­so­phen Bru­no ver­brannt, als die­ser sich als un­be­lehr­bar er­wies.

[2]
Vie­le Or­ga­ni­sa­ti­onen pu­bli­zie­ren ge­hor­samt Li­sten, wor­auf steht, was nicht an­ge­spro­chen wer­den darf. Un­glück­li­cherwei­se sind die­se nach bei­den Sei­ten hin unvollstän­dig; es gibt Din­ge, die so schockie­rend in Ih­rer Welt­sicht sind, dass sie sich nicht ein­mal vorstel­len kön­nen, dass es je­mand wa­gen wür­de, sie zu den­ken, und an­de­rerseits sind sie so verall­ge­mei­nernd, dass sie we­gen der Fül­le mög­lichen Ma­te­ri­als nicht er­zwun­gen wer­den kön­nen. Es wä­re schon ein sel­tenes Ex­em­plar ei­ner Be­nimm­re­gel fürs Kom­mu­ni­zie­ren an ei­ner Uni­ver­si­tät, die wört­lich ge­nom­men, Sha­ke­s­pea­re nicht aus­schlie­ßen wür­de.

[3]
Kun­del HL, No­di­ne CF, Kru­pin­ski EA, „Sear­ching for lung no­du­les: Vi­su­al dwell in­di­ca­tes lo­ca­ti­ons of fal­se-posi­tive and fal­se-ne­ga­tive de­ci­si­ons.“ In­ve­sti­ga­ti­ve Ra­diology, 24 (1989), 472-478.

[4]
Hat sich durch die Über­set­zung er­le­digt. Es ging um ein Wort­spiel, das ei­nen ex­akten Ver­gleich aus­drücken soll.

[5]
Aus die­ser Äu­ße­rung könn­te man ent­neh­men, dass ich mo­ra­li­schen Re­la­ti­vis­mus ver­tre­te. Völ­lig ver­kehrt. Ich den­ke, dass „wer­tend“ ei­nes der Ab­stem­pe­lungen sind, die da­zu da sind, Dis­kus­si­onen über Ide­en ab­zu­wür­gen, und das die Ver­suche ei­nes „nicht wer­tend“ so ziem­lich das Lu­stig­ste ist, was die zu­künf­ti­gen Ge­nerationen an uns ha­ben wer­den.

[6]
Das macht die Welt für Kin­der ver­wir­rend, weil das, was sie se­hen, von dem ab­weicht, was man ih­nen er­zählt hat. Ich ha­be nie ver­standen, warum sich z. B. por­tu­gie­si­sche „Ent­decker“ an der afri­ka­ni­schen Kü­ste ent­lang­ge­han­gelt ha­ben. Die Wahr­heit ist, dass sie auf der Su­che nach Skla­ven wa­ren. Bo­vill, Ed­ward, The Gol­den Tra­de of the Moors, Ox­ford, 1963.

[7]
Die Kin­der ler­nen bald die Wör­ter von Ih­ren Freun­den, aber sie wis­sen, dass sie sie nicht be­nut­zen sol­len. Al­so hat man für ei­ne ge­rau­me Zeit ei­ne Si­tua­ti­on wie in ei­ner Ko­mö­die: Die El­tern be­nut­zen die Wör­ter in­ner­halb Ih­rer Grup­pe, aber nie vor den Kin­dern, die Kin­der be­nut­zen die Wör­ter in­ner­halb ih­res Freun­deskreises, aber nie vor den El­tern.

[8]
Ein paar Jah­re frü­her ar­bei­tete ich in ei­ner Fir­ma mit dem Lo­go ei­nes vol­len ro­ten Krei­ses mit wei­ßen V in der Mit­te. Ich moch­te das Lo­go wirk­lich ger­ne. Nach­dem wir es ei­ne Wei­le verwen­det hat­ten, dach­te ich mir, Du weißt, das ist ein wirk­lich macht­vol­les Sym­bol, ein leuch­ten­d­ro­ter Kreis. Rot ist die wohl grund­le­gend­ste Far­be, und der Kreis das grund­le­gend­ste Sym­bol. Zu­sam­men ma­chen sie so ei­nen star­ken vi­su­el­len Ein­druck. Warum be­nut­zen nicht mehr ame­ri­ka­ni­sche Fir­men ei­nen ro­ten Kreis als ihr Lo­go ? Ach ja… [Es folgt ein er­klä­render Link. Preis­fra­ge: Wel­ches Sym­bol ha­ben wohl die Ja­paner in Ih­rer Na­tio­nal­flag­ge…]

[9]
Die Angst ist bei wei­tem die stärk­ste der bei­den An­trie­be. Manch­mal, wenn ich hö­re, das je­mand das Wort „Gyp“ (Zi­geu­ner) verwen­det, sa­ge ich mit ern­stem Ge­sichtsausdruck, dass man das Wort nicht mehr be­nut­zen kann, weil es für Ro­ma her­ab­set­zend klingt. Tat­säch­lich sind sich die Wör­terbücher über die Her­kunft un­eins. Aber die Re­ak­ti­on auf die­sen Scherz ist fast im­mer ei­ne leicht ent­setz­te Will­fäh­rig­keit. Es ist et­was in der Mo­de, ob Klei­dung oder Ide­en, die das Ver­trau­en der Leu­te un­tergraben: wenn sie et­was neu­es hö­ren, füh­len sie sich im­mer so, als hät­ten sie das schon vor­her wis­sen müs­sen.

[10]
Ich woll­te nicht an­deu­ten, dass die Mei­nungen von Wis­senschaftlern un­ab­ding­bar rich­tig sind, nur dass ih­re Be­reit­schaft, unkon­ven­tio­nel­le Ide­en zu be­rück­sich­ti­gen, ih­nen dort ei­nen Vor­sprung ver­leiht. In an­de­ren Fäl­len sind sie manch­mal be­nach­tei­ligt. Wie an­de­re Ge­lehr­te ha­ben vie­le Wis­senschaftler nie­mals ihr Geld selbst ver­dient – das heißt, sie ha­ben nie wel­ches für Ge­gen­lei­stun­gen Ih­rerseits be­kom­men. Die mei­sten Ge­lehr­ten le­ben in ei­ner anor­ma­len Mi­kro­welt, in der Geld von In­sti­tui­tio­nen und För­de­run­gen ver­ge­ben an­statt durch die ei­gene Lei­stung re­prä­sen­tiert wird. Es ist dann nur na­tür­lich für die mei­sten, dass na­tio­na­le Wirt­schaf­ten nach den­sel­bem Prin­zip ver­fah­ren soll­ten. Als Re­sul­tat ha­ben wir vie­le sonst sehr in­tel­li­gen­te Leu­te, die in der Mit­te des 20. Jahr­hun­derts So­zia­listen sind.

[11]
Vor­aus­seh­bar wür­den sol­che Ge­dan­ken in­ner­halb der In­du­strie als „ne­ga­tiv“ be­zeich­net wer­den. Wie­der ein Stem­pel, ge­nau wie „De­fä­tist“. Schön und gut, soll­te man fra­gen, ist es nun aber wahr oder nicht ? In der Tat ist es wahr­schein­lich ein gu­tes Maß für ei­ne ge­sun­de Or­ga­ni­sa­ti­on, dass ne­ga­tive Ge­dan­ken er­laubt sind. An Stel­len, wo große Ar­beit ge­lei­stet wird, scheint im­mer ei­ne kri­ti­sche und sar­ka­sti­sche Ein­stel­lung vor­han­den zu sein, kei­ne „po­si­ti­ve“ oder „un­terstützende“. Die Leu­te, die ich ken­ne und die gu­te Ar­beit lei­sten, den­ken, dass die­se be­schis­sen ist, aber das es an­derswo noch un­glaub­lich viel be­schis­sener ist.

[12]
Be­har, Ri­chard, „The Thri­ving Cult of Greed and Power,“ Ti­me, 6 May 1991.

[13]
Hea­ly, Pa­trick, „Sum­mers hits ‚an­ti-Se­mi­tic‘ ac­ti­ons,“ Bo­ston Glo­be, 20 Sep­tem­ber 2002.

[14]
„Tin­ke­rers' cham­pi­on,“ The Eco­no­mist, 20 Ju­ne 2002.

[15]
Da­mit mein­te ich, dass man ein pro­fes­sio­nel­ler Un­ru­he­stif­ter wer­den müs­ste, nicht dass No­am Choms­ky's Mei­nungen das sind, was man nicht sa­gen kann. Wenn Sie wirk­lich das sa­gen, was man nicht aus­spre­chen darf, dann schockiert man so­wohl Kon­ser­va­ti­ve als auch Li­be­ra­le glei­chermaßen – ge­nauso, wie wenn man mit­tels ei­ner Zeit­ma­schi­ne zu­rück nach dem vik­to­ria­nischen Eng­land rei­sen wür­de und dann sa­gen wür­de, was man denkt – Ih­re Vor­stel­lungen wür­den To­ries und Whigs glei­chermaßen schockie­ren.

[16]
Traub, Ja­mes, „Har­vard Ra­di­cal,“ New York Ti­mes Ma­ga­zine, 24 Au­gust 2003.

[17]
Mil­ler, Ar­thur, The Cru­ci­ble in Hi­sto­ry and Other Es­says, Me­thuen, 2000.

An­mer­kungen des Über­set­zers

[a]
Für den ame­ri­ka­ni­schen Aus­druck „Nerd“ bzw. „Ge­ek“ gibt es kei­ne tref­fen­de Über­set­zung; in der Über­zeich­nung ist der ty­pi­sche hoch­in­tel­li­gen­te Bril­len­trä­ger mit oft­mals al­bern empfunde­nen Aus­se­hen und oft ge­rin­ger so­zi­aler Be­ga­bung ge­meint. Oft auch als Stre­ber oder Stu­ben­hocker be­zeich­net.

[b]
Im Ori­gi­nal: Plan­tan­gen­be­sit­zer im ame­ri­ka­ni­schen Sü­den vor dem Se­zes­si­ons­krieg.

[c]
[c] Im Ori­gi­nal: Well-ad­jus­ted

[d]
Auf Nach­fra­ge hat Paul Gra­ham die Quel­le „The Ger­man High Com­mand at War“ von Ro­bert B. Asprey für die­sen Aus­druck ge­nannt, den Lu­den­dorff verwen­det ha­ben soll.
Beim Nach­schla­gen wur­de je­doch deut­lich (Sei­te 303 ff.), dass sich Paul Gra­ham irrt; der Aus­druck be­zieht sich auf die in­ne­re Ein­stel­lung Lu­den­dorffs ge­genüber Leu­ten, die Zwei­fel am Sieg äu­ßer­ten. Asprey sagt nicht, dass Lu­den­dorff die­sen Aus­druck als po­li­ti­sche Waf­fe be­nutzt hat und gibt auch kei­ne Quel­len da­für an, dass die­ser oder ein ähn­licher Aus­druck in der Öf­fent­lich­keit verwen­det wur­de.
Nach mei­nen In­for­ma­tio­nen kommt der Aus­druck „De­fä­tis­mus“ aus dem Fran­zö­si­schen, der den Zu­stand der Mut­lo­sig­keit, Re­si­gna­ti­on und Schwarz­se­he­rei be­zeich­net, wenn man die ei­gene Sa­che für aus­sichts­los an­sieht.

[e]
1917 hat­te sich die re­la­tive mi­li­tä­ri­sche La­ge für Deutsch­land verbes­sert. Durch die Er­folge an der Ost­front auf­grund der in­sta­bi­len rus­si­schen In­nen­po­li­tik (kom­mu­ni­sti­sche Re­vo­lu­ti­on) und dem ver­geb­li­chen An­ren­nen der Al­lier­ten ge­gen die stark be­fe­stig­te Sieg­fried­stel­lung an der West­front gab es zwei Vor­stel­lungen ei­nes Frie­dens: die im Ju­li vortra­gene Idee ei­nes „Ver­stän­di­gungsfriedens“ (bei dem sich bei­de Sei­ten mit lee­ren Hän­den be­gnügt hät­ten) und die ei­nes von Hin­den­burg und Lu­den­dorff fa­vo­ri­sier­ten „Sieg­frie­dens“, bei dem Deutsch­land sei­ne Ge­län­degewinne behal­ten hät­te.

[f]
Das stimmt nur zum Teil: Phy­sikalische Vor­stel­lungen be­ru­hen auf dem In­klu­si­ons­prin­zip: Je­des fort­ge­schrit­tenere Mo­dell kann Er­schei­nun­gen er­klä­ren, die das vor­herige Mo­dell nicht kann, aber es muss gleich­zei­tig al­le zutref­fen­den Er­klä­rungen des vor­herigen Mo­dells überneh­men. Auch un­sere heu­ti­gen Mo­delle wer­den ver­mut­lich durch leistungsfä­higere Mo­delle er­setzt, so dass sie strengge­nom­men ge­nauso „falsch“ sind wie die­jen­igen un­serer Vor­fah­ren.
Bei­spiel: Elek­tri­zi­tät/Magnetismus -> Max­well-Gleich­un­gen -> Quan­te­n­elek­tro­dy­na­mik
Es wä­re al­so kor­rekt zu sa­gen: Wir sind rich­tiger als un­sere Vor­fah­ren.

[g]
Im Ori­gi­nal „fuck“. „fuck“ läßt sich von der Be­deu­tung und von der be­nutzten Beu­gung her nicht oh­ne wei­teres ins Deut­sche überset­zen, („Fick“ steht nie al­lei­ne und hat ei­ne haupt­säch­lich se­xu­el­le und we­niger be­lei­di­gen­de Kom­po­nen­te), des­halb das häu­fig verwen­dete „Arsch­loch“ als Er­satz.

[h]
Nicht nur, dass Ga­li­lei of­fen Kri­tik am geo­zen­tri­schen Sy­stem üb­te, er tat dies, in­dem er ab­so­lut un­üb­lich für ei­nen Ge­lehr­ten sei­ner Zeit sei­ne Schrif­ten auf (für das Volk ver­ständ­li­chem) Ita­li­enisch an­statt auf La­tein ver­fas­ste und sich da­mit ab­sicht­lich an das brei­te Pu­bli­kum wand­te.

[i]
Pas­send da­zu wur­de wäh­rend des Irak­krie­ges, wo die Bush-Re­gier­ung auf star­ken öf­fent­lichen Wi­der­stand stieß, ein Aus­bruch von „An­ti­ame­ri­ka­nis­mus“ be­klagt…

[j]
Ko­pro­phi­lie: mensch­li­cher Kot zur se­xu­el­len Sti­mu­la­ti­on.

[k]
Fight Club, Film von Da­vid Fin­cher, ge­dreht 1999.

Ant­worten auf „Was man nicht aus­spre­chen kann“ von Paul Gra­ham

Warum sa­gen Sie nicht ein­fach ein paar Din­ge, die man nicht aus­spre­chen kann ?

Die ex­tremsten Sa­chen, die man nicht äu­ßern darf, wür­den sehr schockie­rend auf die mei­sten Le­ser wir­ken. Wenn Sie das be­zwei­feln, stel­len Sie sich mal vor, wie die Leu­te 1830 von un­seren Nor­mal­vor­stel­lun­gen be­zogen auf die Ost­kü­ste über, sa­gen wir mal, vor­ehe­li­chen Sex, Ho­mo­se­xua­li­tät und die buch­sta­ben­ge­treue Wahr­heit der Bi­bel den­ken. Wir wür­den bis ins Mark ver­dor­ben aus­se­hen. Al­so soll­te man er­war­ten, dass je­mand, der un­sere Ta­bus ge­nauso ver­letzt, in un­seren Au­gen ge­nauso ver­dor­ben wä­re.

Wenn ich die­se Din­ge sa­gen wür­de, wä­re die Wir­kung ei­ner Arsch­bom­be im Schwimm­bad ver­gleich­bar. So­fort wür­de sich das Es­say um die­se und nicht über die all­ge­mei­neren und letzt­lich we­sent­lich wich­tigeren Punk­te dre­hen.

Ei­ne an­de­re Al­ter­na­ti­ve wür­de es sein, ab­ge­schwäch­te, nicht so kon­tro­ver­se The­men an­zu­spre­chen, wie die­ser Lar­ry El­der in sei­nem Buch „Die zehn Din­ge, die man nicht in Ame­ri­ka sa­gen darf“. Ich ha­be das Buch nicht ge­le­sen und ha­be kei­ne Ah­nung, ob es gut ist, aber dies sind si­cher nicht die zehn Din­ge, die man in Ame­ri­ka nicht sa­gen darf. Ich kann mir locker zehn aus­den­ken, die we­sent­lich schockie­render sind. Wenn ich bei die­ser Art ab­ge­schwäch­ter Äu­ße­rungen blei­be, wür­de es Leu­te die be­que­me Il­lu­si­on bie­ten, dass die­se Vor­stel­lungen, die man oft ge­nug im Ra­dio und in den Bars hört, das ul­ti­ma­ti­ve Li­mit des­sen ist, was man nicht sa­gen kann.

In Wirk­lichkeit ist es sehr, sehr schwer, das ul­ti­ma­ti­ve Li­mit zu fin­den. Be­kann­te Un­ru­he­stif­ter blei­ben bei den Früch­ten, die tief hän­gen. Das Pro­blem wirk­lich an­zu­ge­hen wür­de Jah­re der Selbst­be­ob­ach­tung er­for­dern. Man hat die ei­genen von den Vor­stel­lungen der Zeit zu ent­wir­ren und das ist so schwer, dass we­nige Leu­te in der Ge­schich­te das auch nur an­nä­hernd er­reicht ha­ben. Isaac New­ton hat, ge­scheit wie er war, Jah­re sei­nes Le­bens an theo­lo­gi­schen Strit­tig­kei­ten ver­geu­det.

Ich stim­me Ih­rer Ver­all­ge­mei­ne­rung, dass Phy­siker ge­scheiter als Pro­fes­soren der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur sind, nicht zu.

Zur An­schau­lich­keit ha­be ich wirk­lich ein paar Din­ge hineinge­nom­men, die man nicht sa­gen darf, aber ich blieb bei sol­chen, die nur ge­wisse Be­reiche be­tref­fen. In­ner­halb der Fa­kul­täten der Uni­ver­si­tät ist es das Große Un­aus­sprech­li­che. Und se­hen Sie, wie­viel Är­ger ich al­lei­ne da­durch be­kom­men ha­be, in­dem ich es er­wähnt ha­be (Bis jetzt hat sich üb­ri­gens noch nie­mand von der US-Auto­in­dus­trie be­schwert, viel­leicht weil ich ex­pli­zit er­wähnt ha­be, dass ei­ne Ket­ze­rei im An­zug ist, an­statt die­se im Ne­ben­satz einzuflech­ten).

Ver­su­chen wir fol­gendes Ge­dan­kenexperiment. Ein Dik­ta­tor über­nimmt die USA und sen­det al­le Pro­fes­soren der bei­den Fa­kul­täten in Um­er­zie­hungs­la­ger. Den Phy­sikern sagt man, dass sie ler­nen müs­sen, Ar­ti­kel über fran­zö­si­sche Li­te­ra­tur zu schrei­ben, die aka­de­mi­schen An­sprü­chen ge­nü­gen; und den Pro­fes­soren der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur sagt man, dass sie ler­nen müs­sen, ein­fache phy­si­ka­li­sche Ar­ti­kel zu schrei­ben. Wenn ei­ne Grup­pe ver­sagt, wird sie hinge­rich­tet. Wel­che Grup­pe macht sich wohl mehr Sor­gen ?

Wir ha­ben hier ei­ni­ge Hin­wei­se: die be­rühm­te Par­odie von dem Phy­siker Alan So­kal, die im So­ci­al Text ernst­ge­nom­men und ab­ge­druckt wur­de. Wie lan­ge hat er wohl ge­braucht, um die Kunst zu be­herr­schen, tief­sin­nig klin­genden Blöd­sinn gut ge­nug zu schrei­ben, um die Edi­to­ren zu täu­schen ? Ein paar Wo­chen ?

Was glau­ben Sie, wie hoch die Chan­cen da­für sind, dass ein Li­te­ra­turtheoretiker ei­ne Par­odie ei­nes Phy­sikartikels in ei­nem Phy­sikjournal pu­bli­ziert be­kommt ?

Der Kon­for­mi­täts­test über­sieht ei­ne drit­te Mög­lich­keit: das man sich ein­fach nicht dar­um schert, was an­de­re den­ken.

Wahr ge­nug. Aber der­je­ni­ge, der sich mit die­sem Ge­dan­ken trö­stet, liegt fast im­mer falsch, wenn man sich verge­genwärtigt, wie schwer es ist, sich von der Denk­wei­se sei­ner Zeit zu tren­nen. Es reicht nicht aus, ein ge­wöhn­licher Wi­der­ling zu sein. Man muss schon ein Vol­taire sein, und dann schon ein Je­mand.

Wir sind das Er­geb­nis un­serer Er­fah­rungen, al­so wer­den wir si­cherlich die sel­ben Mo­ralanschauungen wie die Leu­te um uns her­um ent­wickeln, aber das be­deu­tet nicht, dass man nicht un­ab­hän­gig ist.

Aber si­cher be­deu­tet es das. Un­ab­hän­gi­ge Leu­te über­dau­ern Ih­re Zeit. Ko­per­ni­kus ver­stand, das die Son­ne nicht um die Er­de kreist, als tra­di­tio­nelle Vor­le­sun­gen, je­der um ihn her­um und selbst die Ein­drücke sei­ner Sin­ne ihm sag­ten, dass sie es tut. Zu sei­ner Zeit war die­se Vor­stel­lung so weit her­ge­holt, dass er selbst große Mü­he hat­te, sie selbst zu glau­ben: er wur­de prak­tisch da­zu ge­zwun­gen, weil es die ein­zi­ge Mög­lich­keit war, die Zah­len rich­tig her­aus zu be­kom­men. (An­mer­kung: Das stimmt nicht oh­ne wei­teres. Ko­per­ni­kus glaub­te im­mer noch, dass sich die Kör­per auf ge­schach­tel­ten Krei­sen be­wegten, die soge­nann­ten Epi­zy­klen, wäh­rend sie sich tat­säch­lich auf El­lip­sen be­we­gen. Das ko­per­ni­ka­ni­sche Mo­dell war teil­wei­se ge­nauso feh­ler­haft wie das pto­le­mäi­sche)

Es mag schwer sein, die ei­gene Zeit zu über­dau­ern, aber ich mei­ne, dass man we­nigstens da­nach stre­ben soll­te, an­statt sich mit dem Ge­dan­ken zufriedenzuge­ben, dass Er­zeug­nis ei­ner be­stimmten Zeit und ei­nem be­stimmten Ort zu sein, die Irr­tü­mer von ei­nem selbst ent­schul­digt.

Die Tat­sa­che, dass man et­was nicht sa­gen kann, be­deu­tet nicht, dass sie wahr ist.

Ich glau­be, dass dies im­pli­zit in „Es ist al­so wahr­schein­lich, dass Be­su­cher aus der Zu­kunft zu­min­dest ein paar der Be­haup­tun­gen be­stä­ti­gen wer­den, die heu­te Leu­ten Är­ger be­rei­ten.“ steckt. In ei­ner frü­heren Ver­si­on ha­be ich dies ex­pli­zit aus­ge­drückt, aber es kam mir wie­derho­lend vor, des­halb ha­be ich es weggelas­sen.

Der Grund, warum ich mei­nen Kin­dern ver­bie­te, Wör­ter wie „Schei­ße“ oder „Arsch­loch“ zu sa­gen, ist nicht, dass sie un­schul­dig aus­se­hen sol­len, son­dern weil die­se Wor­te un­ge­hö­rig sind und nichts zur Ver­stän­di­gung bei­tra­gen.

Wenn die­se Wör­ter kei­nen Zweck verfol­gen wür­den, wür­den sie wegfal­len. Ei­ner die­ser Zwecke ist es, star­ken Miß­fal­len aus­zu­drücken. Es mag un­ge­hö­rig sein, stän­dig star­ken Miß­fal­len aus­zu­drücken, aber es gibt Fäl­le, wenn dies an­ge­bracht ist. Ich wür­de es nicht als un­ge­hö­rig an­se­hen, wenn man „Oh Schei­ße“ sagt, nach­dem man er­fährt, dass das ei­gene Haus ge­ra­de nie­der­ge­brannt ist. Ich wür­de ei­nen Spieß nicht als uner­zo­gen an­se­hen, wenn er zu ei­nem Re­kru­ten, der in­ner­halb Feu­e­rent­fer­nung ein ge­la­de­nes Ge­wehr verse­hentlich auf ei­ne Per­son rich­tet, sagt: „Was zum Teu­fel glaubst Du ver­damm­tes Arsch­loch ei­gentlich, was Du da machst ?!“ In die­sen Si­tua­ti­on wä­re „Ach Du lie­be Zeit“ (Die Al­ter­na­ti­ve, die mei­ne El­tern mir beibrach­ten) nicht aus­rei­chend – es wä­re unan­ge­mes­sen.

Hier ein Ge­dan­kenexperiment, dass Sie zum Un­tersu­chen Ih­rer Mo­tive ver­wen­den kön­nen. Kön­nen Sie sich ei­ne Si­tua­ti­on vorstel­len, in der die Be­nut­zung der Wör­ter von Ih­ren Kin­dern nicht ab­sto­ßend erschei­nen wür­de ?

Es gibt wahr­schein­lich bei je­dem Mo­mente star­ken Miß­fal­lens. Wenn Sie al­so die Vor­stel­lung dar­an, dass Ih­re Kin­der die Aus­drücke be­nut­zen, un­ab­hän­gig von den Be­din­gungen im­mer ab­sto­ßend fin­den, dann wol­len Sie wahr­schein­lich in Wirk­lichkeit Ih­re Kin­der un­schul­dig se­hen.

Sie be­haup­ten, dass man es sich ein­fach macht, Vor­stel­lungen als x-istisch ab­zu­stem­peln und doch sa­gen Sie: „vie­le sonst sehr in­tel­li­gen­te Leu­te, die in der Mit­te des 20. Jahr­hun­derts So­zia­listen sind.“

Ich be­nut­ze es nicht als Stem­pel, um Vor­stel­lungen zu un­terdrücken. Sie ha­ben sich selbst So­zia­listen ge­nannt. Sa­gen, dass Sid­ney Webb So­zia­list war ist ver­gleich­bar da­mit dass My­ron Scho­les ein Öko­nom ist. Es ist bloß der Aus­druck ei­ner Tat­sa­che.

Wie kön­nen Sie So­zia­lis­mus so ne­ben­bei ab­tun ?

Ich ha­be wirk­lich ei­ne Men­ge dar­über nachge­dacht; es war kei­ne bei­läu­fi­ge Be­mer­kung. Ich mei­ne, dass die grund­sätz­liche Fra­ge nicht ist, ob die Re­gie­rung Schu­len oder Kran­ken­ver­sor­gung be­zahlt, son­dern, ob man Leu­ten er­laubt, reich zu sein.

In den sieb­zi­ger Jah­ren von Eng­land war der Höchst­satz der Ein­kom­mens­steu­er 98 %. Das ist das, wor­auf sich der Satz „eins für dich, neun­zehn für mich“ des Beatle-Songs „Tax Man“ be­zieht.

Je­der Staat, der die­se Ent­schei­dung trifft, ver­liert im En­deffekt, weil neue Tech­no­lo­gie von Leu­ten ent­wickelt wird, die ein Ver­mö­gen ma­chen wol­len. Es ist zu viel Ar­beit für je­manden, der nor­male Ge­häl­ter be­zieht. Klu­ge Leu­te mö­gen zwar an auf­re­genden Pro­jekten wie Kampf­flug­zeu­ge und Welt­raum­ra­ke­ten bei nor­malem Lohn ar­bei­ten, aber Halb­lei­ter oder Glühlam­pen oder das Auf­bau­en des E-Kom­mer­zes müs­sen durch Neu­ein­stei­ger ent­wickelt wer­den. Das Le­ben in der So­wje­tu­ni­on wä­re noch arm­se­li­ger ge­we­sen wenn die Rus­sen nichts von den Ame­ri­kanern hät­ten ko­pie­ren kön­nen. Finn­land wird manch­mal als Bei­spiel ei­ner pro­spe­rie­ren­den so­zi­alistischen Ge­sell­schaft ge­nannt, aber of­fenbar be­trägt der Höchst­satz der kom­bi­nier­ten Ein­kom­mens­steu­er 55%, nur 5% hö­her als in Ka­li­for­ni­en. Wenn Finn­land al­so we­sent­lich so­zi­alistischer als die USA aus­se­hen, liegt es dar­an, dass sie nicht so ho­he Mi­li­tär­aus­ga­ben ha­ben.

Es gibt in der Tat Din­ge, die man Hol­land nicht sa­gen kann.

Ups, ja, ich ver­gaß das Schick­sal von Pim For­tuyn. (An­mer­kung: Pim For­tuyn war ein um­strit­te­ner hol­län­di­scher Po­li­tiker, der un­ter an­de­rem auf­grund sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät mit dem Is­lam auf Kriegs­fuss stand und ei­nen Auf­nah­mestopp für Asyl­be­wer­ber be­für­wor­te­te. Er wur­de von sei­ner Par­tei aus­ge­schlos­sen, grün­de­te ei­ne neue, die großen Zu­lauf ge­wann, bis er 2002 von ei­nem ra­di­ka­len, aber bis­her un­auf­fäl­lig le­bendem Um­welt­schüt­zer er­schos­sen wur­de.)